September 09, 2012

184 Jahre Lev Nikolaevič Tolstoj

Die Entwicklungsstufen der Knechtung.

Jede Art der Unterdrückung eines Menschen durch einen anderen ist nur darauf begründet, daß der eine Mensch den andern des Lebens berauben kann und ihn, indem er in dieser drohenden Haltung verharrt, dazu zwingt seinen Willen zu erfüllen.
Ohne falsch zu gehen, kann man sagen: Wenn eine Unterjochung, eines Menschen stattfindet, das heißt, wenn der eine gezwungen wird, gewisse, von ihm nicht gewünschte Handlungen gegen seinen Willen nach dem Willen des andren auszuführen, so ist die Ursache davon nur die Gewalt, deren Grundlage die Drohung ist ihn des Lebens zu berauben. Wenn ein Mensch seine ganze Arbeit einem andern hingibt,sich in ungenügender Weise nährt, seine kleinen Kinder zu schwerer Arbeit hingibt, von seinem Lande fortzieht, um sein Leben einer ihm zuwideren, für ihn nutzlosen Arbeit zu widmet,, wie das vor unsern Augen und in unserer Welt (die wir 'zivilisiert' nennen, weil wir in ihr leben) geschieht, so kann man sich sicherlich sagen, daß er das nur deshalb tut, weil im Falle der Nichterfüllung alles dessen, sein Leben bedroht ist. Und darum befindet sich in unserer gebildeten Welt, in der die Mehrzahl der Menschen unter schrecklichen Entbehrungen ihnen zuwidere und nutzlose Arbeiten verrichtet, die Mehrzahl der Menschen in einer Knechtschaft, welche auf die Drohung sie des Lebens zu berauben, beruht.
Worin besteht diese Knechtschaft? Und worin liegt die Lebensbedrohung?
In alten Zeiten ward die Art der Knechtung und Bedrohung des Lebens augenscheinlich. Es war jene ganz ursprüngliche Art der Knechtung der Menschen, die in der einfachen Drohung mit der Tötung durch das Schwert bestand. Der Bewaffnete sagte zu dem Unbewaffneten: 'Ich kann dich töten, wie ich soeben mit deinesgleichen getan habe, aber ich will das nicht tun, ich verschone dich — hauptsächlich darum, weil es für mich und dich vorteilhafter fein wird, wenn du dich weigerst, so werde ich dich töten". Und der Unbewaffnete unterwarf sich dem Bewaffneten und tat alles, was ihm dieser befahl. Der Unbewaffnete arbeitete, der Bewaffnete drohte. Das war die persönliche Knechtschaft, die ursprünglich bei allen Völkern erscheint und deshalb auch jetzt noch bei allen Naturvölkern gefunden wird.  
Diese Art der Knechtung der Menschen war die erste aber als das Leben mannigfaltiger wurde, änderte sich auch diese Art in ihrer Form.
Denn sie hatte bei der mannigfaltigeren Gestaltung des Lebens große Unbequemlichkeiten für den Unterdrücker. Um die Arbeit der Schwachen auszubeuten, mußte der Unterdrücker sie nähren und kleiden, das heißt, sie so unterhalten, daß sie zur Arbeit fähig waren, und eben dadurch war die Zahl der Unterdrückten beschränkt, die ein Unterdrücker haben konnte, außerdem nötigte diese Art den Unterdrücker beständig mit Todesdrohungen vor den Unterdrücken zu stehen.
Und da entwickelte sich eine andere Art der Knechtung, deren Schilderung wir im alten Testament finden.
Vor fünftausend Jahren wurde, wie die Bibel sagt, durch Joseph, den Schönen, diese neue, bequemere und umfassendere Art der Menschenknechtung erfunden. Diese Art ist dieselbe, welche in neuerer Zeit zur Bändigung widerspenstiger Pferde und wilder Tiere in den Menagerien angewendet wird. Das Mittel ist der Hunger.
Diese Erfindung wird in der Bibel folgendermaßen beschrieben: (1. Mos. 41.) 
'48. Und sammelten alle Speisen der sieben Jahre, so im Land Aegypten waren; und taten sie in die Städte. Was für Speise auf dem Felde einer jeglichen Stadt umherwuchs, das taten sie hinein.
49. Also schüttete Joseph das Getreide auf, über die Maße viel wie Sand am Meere, also, daß er aufhörte zu zählen; denn man konnte es nicht zählen.
53. Da nun die sieben reichen Jahre um waren im Lande Aegypten,
54. Da fingen an die sieben teuren Jahre zu kommen davon Joseph gesagt hatte. Und es ward Teuerung in allen Landen, aber in ganz Aegyptenland war Brot.
55. Da nun das ganze Aegyptenland auch Hunger litt, schrie das Volk zu Pharao um Brot. Aber Pharao sprach zu allen Aegytern: Gehet hin zu Joseph, was euch der saget das tut.
56. Als nun im ganzen Land Teuerung war, tat Joseph allenthalben Kornhäuser auf und verkaufte den Aegytern. Denn die Teuerung war je länger, je größer im Lande.
57. Und alle Länder kamen in Aegypten zu kaufen bei Joseph; denn die Teuerung war groß in allen Ländern.'
Joseph benutzte die ursprüngliche Art der Knechtung der Menschen durch die Drohung mit dem Schwert, sammelte Getreide in guten Jahren in Erwartung der schlechten, die gewöhnlich auf die guten folgen, wie jedermann auch ohne Pharaos Traumgesichte weiß. Und durch dieses Mittel — den Hunger — arbeitete er starker und bequemer für Pharao und alle andern Einwohner der anstoßenden Länder.
Als das Volk anfing. Hunger zu empfinden verfuhr er in solcher Weise, daß er für immer das Volk in seiner Gewalt behielt, — durch den Hunger.
So entstand die zweite Form der Knechtung der Menschen durch die Herrscher und die Reichen.

Leo Tolstoi

Aus: Der arme Teufel, No. 83[9] (falsch als 838 angegeben), Esch/Alzette, 15. März 1925.
Seit einigen Wochen steht diese alte luxemburger Zeitung auf der eluxemburgensia-Seite der Nationalbibliothek online. Insbesondere in den Ausgaben der 1920er findet man viel Anarchistisches (unter anderem Übernahmen von Beiträgen aus Erkenntnis und Befreiung oder Le Libertaire), obwohl die Zeitung - die in ihren Anfängen am linken, syndikalistischen Rand der Sozialdemokratie stand - sich als "freies sozialistisch-republikanisches Organ Luxemburgs" bezeichnete, und in Wahlzeiten üblicherweise dazu aufrief, für die Liberalen zu stimmen.

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